Meine heutige persönliche Filmkritik:

Mord im Orient-Express
(2017)

Ein nicht nennenswerter Film, der durchaus unterhält, aber kein Stück mehr. Ich habe das Buch nicht gelesen, daher kannte ich auch den Täter noch nicht im Vorfeld. Achtung: Wer das Buch ebenfalls nicht gelesen hat, schaltet jetzt am besten ab - ich könnte spoilern.

 

Die Eingangsszene mit der Aufklärung des Raubes an der Klagemauer folgt so ziemlich in jedem Aspekt der Anleitung einer klassischen Einführung eines Charakters. Man weiß sofort, was man von Poirot halten und erwarten darf. Sein überragender Intellekt, seine Fähigkeit zu Schlussfolgerungen und der damit verbundenen, fast schon hellseherischen Kombinationsgabe werden ebenso plakativ bebildert (Wache, Gehstock in Mauer, …) als auch sein in Wort und Erscheinung gepflegter Auftritt und seine Pedanterie (Fladen, Krawatte, …). Sobald dies abgefrühstückt ist, gehts dann los mit der Handlung, die man auch als Nicht-Buchkenner dennoch in den Grundzügen kennt: Auf der Zugfahrt wird jemand ermordet, der Zug steckt im Schnee fest, der Mörder muss also unter den anwesenden Fahrgästen sein, und Poirot macht sich dran, diesen zu ermitteln. Das gestaltet sich angenehmerweise überwiegend sehr unspektakulär mit vielen Gesprächen mit den bunt zusammengewürfelten Charakteren, die mit einem ansehnlichem Kostümbild und schicker Frisur/Maske geschmückt sind.

 

Kamera und Schnitt sind in diesen Szenen passend ruhig und zurückhaltend, und bieten stellenweise schöne Perspektiven, wie z.B. der senkrechte Blick nach unten wenn die Leiche entdeckt wird, wobei diese überhaupt nicht gezeigt wird, sondern nur durch die Beschreibung der Akteure beschrieben wird.

Zwei Sachen haben mir nicht so gefallen, aber noch nicht in einem Maß, dass es mich wirklich gestört hätte:

Manchmal waren mir die Kamerafahrten etwas unmotiviert ausladend und weitläufig, z.B. beim Verhör am offenen Zug, wenn die Kamerafahrt von 20 Meter weit unten bis leicht über Kopfhöhe fährt. Handwerklich war die Fahrt natürlich einwandfrei, aber die Eisenbahnbrücke so abzufahren empfinde ich als unmotiviert, da diese nicht wirklich einen dramaturgischen Stellenwert hat (der Halt des Zugs in der Pampa natürlich schon, aber die Brücke an sich eben nicht). Und einfach so als Kamerabewegung, dass das Bild eben nicht still steht, empfinde ich sie als übertrieben.

Und das zweite ist, dass mir bei manchem Dialog die Bildausschnitte zu unterschiedlich waren. Da wurde z.B. von einer ziemlich nahen Nahaufnahme auf eine Halbtotale hin- und hergeschnitten, bei denen mir der Unterschied zu groß war. Das ist natürlich völlig subjektiv. Ich persönlich bin eben eher der Freund von überwiegend gleichen Ausschnitten bei schrägen Dialogperspektiven, es sei denn ein Wechsel ist inhaltlich begründet. In einer anderen Kritik hatte ich sinngemäß gelesen, 'die Kamera fliegt durch völlig künstlich wirkende Schneelandschaften'. Davor hatte ich etwas Angst, kann es aber in der Gesamtheit so nicht bestätigen. Die Landschaften sind überwiegend stimmungsvoll gestaltet. Nur eine handvoll Einstellungen empfand ich als 'typisch Effekt', übrigens auch ein paar der Außenaufnahmen bei Gesprächen außerhalb des Zugs auf dem schneebedeckten Plateau.

 

Inhaltlich ist es nicht wirklich 'spannend' im Sinn eines wirklichen Krimis, da man Poirot und die anderen Gäste während den Ermittlungen trotz eindeutiger Warnungen nicht wirklich in Gefahr vermutet – zumindest ging mir das so. Da hat mich die Atmosphäre dann doch nicht so mitgenommen. Das tut aber der angenehmen Betrachtung der Verhöre und Grübeleien keinen Abbruch. Im Verlauf bekommt man schon das Gefühl, dass der Fall und die Zusammenhänge doch sehr konstruiert wirken, was üblicherweise ja kein gutes Zeichen ist. Jedoch stellt sich bei der Auflösung dann heraus, dass eben alles konstruiert ist (!), und wirkt damit durchaus befriedigend.

 

Ebenso konstruiert, aber im positiven Sinn, ist das Bild, in dem alle Verdächtigen an dem Tisch am Tunneleingang sitzen, und damit eine 'Das letzte Abendmahl'-Stimmung nachstellen, und hier eben nicht die Kreuzigung als 'Showdown' ankündigen, sondern die Überführung des Täters. Doch es kommt ja anders, und das moralische Dilemma ist ordentlich verarbeitet, wobei mir die vermeintliche 'alles oder nichts'-Entscheidung etwas unausgegoren aufstieß - aber das ist ja dem Buch geschuldet, und soll dem Film jetzt nicht negativ angelastet werden. Vielleicht hätte es dem Film gut getan, wenn der Ausgang der Entscheidung, ob Poirot die gemeinschaftliche Mördergruppe letztendlich ausliefert oder laufen lässt, offen gelassen worden wäre. Aber zugegebenermaßen ergäbe das in einer Buchverfilmung wenig Sinn, da der Ausgang durch das Buch definiert und bekannt ist.

 

Den Monolog am Schluss als den 'verspäteten' Brief anzulegen, ist eine kluge Entscheidung (ob von Agatha Christie oder Kenneth Branagh), da er so nicht wie die übliche Moralkeule wirkt, die vielen Filmen heutzutage angehängt zu werden scheint, um auf den letzten Drücker nochmal mehr Tiefe zu suggerieren. Er wird während einer schönen langen Steadycam-Fahrt gesprochen, die zu Poirots Verkündung seiner Entscheidung führt, und damit seinen Gedankengang erklärt. Zu diesem Thema hat mir auch gut gefallen, wie er nach der anfänglichen Ablehnung von Ermittlungen sich doch dazu entscheidet: In einer kurzen Dialogsequenz geht es um Vorurteile und Rassismus, und die ist so schön geschrieben, dass der Sinneswandel einwandfrei nachvollziehbar ist, und gleichzeitig Poirots Charakter als guter Mensch' untermauert.

 

Das Ensemble bietet große Namen, und es gestaltet sich überraschend angenehm, oder auch angenehm überraschend, dass das nicht zu großer Theatralik im Sinn von 'großen Szenen' führt. Bei Johnny Depp hatte ich Bedenken, dass er mal wieder 'nur' eine weitere Abwandlung seines so populär gewordenen tuntenhaft skurrilen Typus spielt, und so die Stimmung unnötig ins Lächerliche zieht. Aber er hat mir sehr gut gefallen in seiner 'reifen' Erscheinung, mit den dezenten Narben, und seiner unsympathisch aufdringlichen Art, die aber erfreulicherweise eben nicht ins beschriebene Nervige abdriftet.

 

Die Musik (Patrick Doyle)war passend und zurückhaltend, und fiel nicht weiter auf. Der Schluss spielt auf einen weiteren Roman an (Der Tod auf dem Nil), und damit vielleicht auf eine weitere Verfilmung? Wir werden sehen.

 

Insgesamt also ein 'netter' Kinoabend - nicht mehr, nicht weniger.


Meine beiden Lieblingszitate:
1. Johnny Depp starrt Michelle Pfeiffer an. Sie: 'Wenn Ihre Blicke noch länger auf mir weilen, muss ich Miete verlangen.' Er, grinsend: 'Ich bezahle!'
2. Poirot beim Verhör eines Gastes, nachdem dieser eine Verdächtigung aufgrund verallgemeinernder Vorurteile ausgesprochen hat: 'Ich dachte Sie verdächtigen niemanden aufgrund seiner Rasse.' Gast: 'Das kommt auf die Rasse an.'

Sascha Loffl - Filmemacher

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