Meine heutige persönliche Filmkritik:

Nymphomaniac: Vol. I
(2013)

Uuuh ist das nicht dieser böse Film, in dem echt GEBUMST wird? Ja genau, das ist die überwiegende Wahrnehmung, und meist wohl auch die einzige Kenntnis, vor allem von jemandem, der ihn überhaupt nicht gesehen hat - leider. Denn eingebettet sind die expliziten Sex-Szenen in eine fantastisch geschriebene Charakterstudie über die titelgebende Nymphomanin (Charlotte Gainsburg), die einem Fremden (Stellan Skarsgård) ihre Lebensgeschichte erzählt, und das in einem sehr interessanten Mix aus Melancholie und Befremdlichkeit mit viel ausgefeilten Dialogen mit skurrilen Parallelen und Abschweifungen. Eine Art Tarantino der feinsinnigen Ironie vor der Kulisse eines (scheinbaren?) Tabus. 'Satirisches Drama' trifft es vielleicht auch ganz gut, denn die gedrückte Grundstimmung bildet einen starken Kontrast zu den teils grotesken Situationen. Das verhindert schon mal, dass die ganzen Ferkeleien cool wirken, und damit stilistisch in eine ganz andere Art von Genre abdriften.

 

Ich habe erst den ersten Teil des fünfeinhalb (!) Stunden langen Director's Cut durch, kann mich aber nicht zurückhalten, mich schon jetzt darüber auszulassen. Vorneweg: Der Film ist ganz und gar kein Porno unter dem Deckmantel eines Kunstfilms, der nur auf Provokation, Tabubruch und Sauerei aus ist, obwohl Lars von Trier sicherlich auch mit diesem 'Um Himmels Willen, das gab es ja noch nie!' spielen wollte. Ich sehe das so: In einem Film über einen besessenen Serienmörder findet man oft relativ selbstverständlich viel Gewalt und Blut, gerne auch explizit dargestellt. Manchmal ist es wirklich nur des Effekts willen so inszeniert und damit platt, manchmal ist es aber auch so gestaltet, dass es tatsächlich ein stimmiges Bild ergibt, eine Milieudarstellung, eine tiefere Charakterzeichnung. Ein Film mit expliziter Gewaltdarstellung ist ja nicht gleichzusetzten mit einem gewaltverherrlichenden Film.

Das ist auf Nymphomaniac zu übertragen: Hier geht es eben um eine Sex-Besessene, daher sind die Sex-Darstellungen für mein Empfinden durchaus plausibel, da sie niemals einfach nur als Effekt eingesetzt werden. Bei ihr dreht sich nun mal alles immer nur um Sex, und das wird künstlerisch plausibel gestaltet, ist oft ironisch und überspitzt, durchaus kontrovers.  Joe - so der Name der Nymphomanin - ist im Rückblick auf ihr bisheriges Leben auch überhaupt nicht stolz auf ihr Ausleben des Verlangens, wirkt depressiv, tendiert dazu, sich nur als schlecht darzustellen. Bildlich gesprochen sind die Erinnerungen und damit die Bilder sowohl für sie als auch für den Zuschauer auch mal unerwünscht aufdringlich, und damit radikales Stilmittel. Es ist ausgerechnet ein Fremder, der in ihrer Geschichte ständig versucht, zu verstehen, zu relativieren, Ursache, Grund und vielleicht sogar Rechtfertigung zu finden. Ein älterer Herr jüdischer Abstammung mit dem vielsagenden Namen 'Seligman', genügsam, gebildet und redegewandt, der sie verletzt und bewusstlos auf der Straße findet (es kam bisher noch nicht raus was passiert ist) und ihr in seiner einfachen Wohnung einen Tee anbietet. So kommen sie ins Gespräch. Schwerpunkt des Films ist also durchaus ein Kammerspiel, das in Rückblenden ins Leben von Joe eintaucht. 

 

Die Dialoge sind wunderbar fein gestrickt, und es ist herrlich, welche Parallelen Seligman für das nymphomanische Treiben findet - im Angeln, in der Musik, der Kunst, der Geometrie... Alle erstaunlich plausibel, oder doch nur naive Schönmalerei? Sie werden an vielen Stellen ganz konkret in Bild und/oder Ton dargestellt, als Foto, Bewegtbild, Text oder Grafik. Das ist zum Teil herrlich skurril, zum Beispiel wenn Joe den Nachbarsjungen bittet, sie zu entjungfern, und ihre Stimme im Off erzählt, dass er '3x zugestoßen hat, sie dann umgeworfen wie einen Kartoffelsack, und dann noch 2x in den Arsch': Da wird in bildfüllend eingeblendeten Zahlen 1, 2, 3 hochgezählt, dann sieht man für eine halbe Sekunde eine Aufnahme von Händen, die einen Kartoffelsack umwerfen, und für die restlichen Stöße wird 3+1, 3+2 eingeblendet.

Natürlich denkt man sich bei der oberflächlich witzigen Szene hintergründig 'oha'! Aber im Kontext, und was sich aus dieser Szene ergibt, ist das tolles Geschichtenerzählen. Ich glaube, das ist so aus der Beschreibung nicht nachvollziehbar, das ergibt sich nur, wenn man es im Film erlebt.

 

Es ist auch nicht so, dass die echten Sex-Darstellungen (mit Double gedreht - die Gesichter der Darsteller wurden digital eingesetzt, was einwandfrei funktioniert) immer erotisch wirken (sollen). Über allem liegt die tiefe melancholische Stimmung, die die Erzählerin in sich trägt. Und in den jungen Jahren, in denen Joe bereits ihre Veranlagung entdeckt, wird immer wieder mit dem Ausblick auf Schlimmes gespielt - das ständige Streicheln des Vaters über den Kopf der Tochter, wenn er ihr die Natur erklärt und Geschichten zu Bäumen erzählt, wirkt im Gesamtbild unangenehm und befremdlich, weil man als Zuschauer so auf das Thema konditioniert ist und nicht weiß, wohin das führt oder eben nicht führt. Im Gegensatz dazu wird das spätere 'Abarbeiten' oft mit viel Witz fragmentarisch erzählt, intime Großaufnahmen komponiert zu Split-Bildern mit Orgelspiel und Naturaufnahmen, um die Parallelen zu verdeutlichen, wirken fast schon surreal malerisch. Aber um es nochmal aufzugreifen: Die Geschichte würde auch völlig ohne die expliziten Darstellungen funktionieren, weil sie mitsamt ihrer oft absurden Szenerie sehr gut geschrieben ist. Ich halte es daher für rundweg falsch, den Film allein aufgrund der Tatsache, DASS er diese Akte zeigt, in eine bestimmte Schublade zu schieben. Der Film führt finde ich auch schön vor Augen, welchen großen Vorsprung die Gewalt im Rennen mit Sex um Gesellschaftsfähigkeit errungen hat. Vielleicht ist das auch mit ein Grund, warum Nymphomaniac im traditionell als prüde angesehenen Amerika bei den Oscars unberücksichtigt blieb. Ich hätte Drehbuch und Regie für einen Oscar nominiert, vielleicht noch Kamera. 

 

Highlight für mich ist die Schauspielerin Stacey Martin, die die junge Joe spielt. Sie ist hervorragend gecastet. Für mein Empfinden strahlt sie schon optisch mit ihren zarten Gesichtszügen und verträumtem Blick diese klischeehafte Mischung aus Unschuld und Verführung aus, und die Gestaltung ihres Charakters mit fast durchweg schüchtern wirkender, flüsternder Stimme und naivem Gemüt verlieht dem Ganzen noch eine Art märchenhaften Zeitlupeneindruck - was aber gleichzeitig auch oft so rüberkommt, als stehe sie ständig neben sich und wüsste mit sich und der Welt nicht wirklich was anzufangen. Und das ist es ja letztendlich auch, was die erwachsene Joe so depressiv und voller Selbstverachtung zurückblicken lässt. Ein toll gelungener Kontrast.

 

Die Handlung ist in Kapitel aufgeteilt, die ganz konkret durch Titeleinblendungen kenntlich gemacht sind. Ein Kapitel enthält eine Szene mit Uma Thurman, die 1:1 aus einem Tarantino stammen könnte. Einer von Joes zahlreichen Liebhabern verlässt seine Frau, um mit Joe zu leben, was diese völlig überrumpelt. In dieser Schockstarre kommt die Ehefrau (Thurman) samt den drei Kindern in die Wohnung - zum Verabschieden. Sie zeigt ihnen das Schlafzimmer ('prägt euch dieses Zimmer gut ein, vor allem das Bett. Hier hat die Hurerei angefangen'), hält einen abstrusen Monolog, macht letztendlich Tee für alle. Diese Szene dauert gefühlt ewig, und verbreitet eine grandios unangenehme, skurrile Stimmung, da alle anderen betreten schweigen und es über sich ergehen lassen. Letztendlich beendet die Ehefrau selbst den Besuch und verlässt schreiend und heulend die Wohnung mit den Worten 'bevor das hier zu grotesk wird' - was wie ein zusammenfassender Kommentar zur Filmszene selbst wirkt. Topp!

 

Ein anderes Kapitel ist als einziges in Schwarz-Weiß, nämlich als ihr Vater im Delirium stirbt. Ich interpretiere das so, dass diese Phase sprichwörtlich die dunkelste ihres Lebens war, und gleichzeitig auch die einzige, in der sie irgendeinem Menschen überhaupt nahestand. Dieses Kapitel ist immens drückend. Wie vorher bei anderen Körperlichkeiten wird auch beim Leid des Vaters nichts beschönigt, man sieht sein langsames Dahinsiechen in der Verwirrung samt Einnässen und Durchfall, unterbrochen von lichten, einfühlsamen Momenten. Starke Szenen, in denen Joe spätestens deutlich wird, dass ihre Sexsucht eine Belastung ist, unangebracht, sie an sich zweifelt, sich sämtlichen Gefühlen verweigert. Von der 'Liebe als Geheimzutat des Sex', wie es ihre Freundin in einem eigens gegründeten Mädchenclub formuliert hat ('Mea Vulva, mea maxima Vulva' mit einem 'Akkord des Teufels' als Klavierbegleitung - herrliche Szene!), sowieso schon lange.

Als sie einen alten Freund wieder trifft (der, der sie entjungfert hat), führt eins zum anderen, man kann es sich denken: dieses Weltbild wird wohl ins Wanken geraten.

 

Vol. I hört auf mit einer ausgiebigen Sex-Szene, in der Joe zum ersten Mal so wirkt, als genieße sie wirklich - nur um dann festzustellen: 'Ich fühle nichts!'

 

Ich bin sehr gespannt auf 'Vol. II'.

 

Anmerkung:
Schriftlich wirkt das alles vielleicht nicht greifbar oder wie eine Beschönigung von Obszönem. Kann sein, und natürlich ist das Empfinden subjektiv. Zur eigenen Beurteilung empfehle ich, sich auf den Film einlassen und möglichst unvoreingenommen auf sich wirken zu lassen.

Sascha Loffl - Filmemacher

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